C. Soldat: Russland als Ziel kolonialer Eroberung

Cover
Titel
Russland als Ziel kolonialer Eroberung. Heinrich von Stadens Pläne für ein Moskauer Reich im 16. Jahrhundert


Autor(en)
Soldat, Cornelia
Reihe
Global- und Kolonialgeschichte
Anzahl Seiten
285 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrej Doronin, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Max Weber Stiftung

Der auf dem Buchcover in roter Schrift dominant hervorstechende Haupttitel des Buches irritiert. Ich wusste nichts von einem kolonialen Diskurs des frühmodernen Heiligen Römischen Reiches in Bezug auf Moskovien. Mit dem Untertitel verweist Cornelia Soldat auf Heinrich von Staden (1544 – nach 1581?) und seinen bis ins 20. Jh. unbekannten Plan zur Eroberung Moskoviens (1578/1579), wo er am Hof Ivans des Schrecklichen bis 1575 als Dolmetscher tätig war. Die Autorin porträtiert von Staden vollkommen zu Recht als einen nicht gut ausgebildeten Abenteurer, Glücksfänger und Diener verschiedener Herren. Seine Schriften sind allerdings erst im 20. Jh. entdeckt und publiziert worden. In der wenigen Forschung über ihn gilt er als ein Zeitzeuge der Opričnina, obwohl seine hinterlassenen Schriften als Quellen nicht wirklich vertrauenswürdig sind, was auch Cornelia Soldat zu Recht beweist. In einen breiten frühmodernen kolonialen Diskurs sowie in die Kulturgeschichte der Spätrenaissance wurde er bisher nicht eingeschrieben.

Von Stadens Plan sah vor, dass der Kaiser Moskovien zu einer Provinz des Heiligen Römischen Reiches macht, damit sie als eine Art antemuralis christiantitatis gegen die Osmanen und das Krimkhanat dienen kann. Moskovien beschreibt von Staden als ein wenig entwickeltes, aber doch christliches Land unter der Macht eines Tyrannen. Ob seine „Pläne für ein Moskauer Reich“ ernsthaft im Kontext der frühmodernen europäischen Kolonialgeschichte diskutiert werden können, bleibt zweifelhaft.

Cornelia Soldat lässt sich von der Hypothese leiten, dass von Stadens Anschlagsplan nur eine Dissimulation war, also ein verstecktes intellektuelles Spiel, in dem er sich „als Äquivalent Cortés“ (S. 166), als einen „Renaissance-Held“ und „stereotypen Eroberer neuer Welten“ (S. 227) stilisierte. Sie stützt sich in diesem Sinne auf die bei ihr ausschließlich einmalig (S. 219) erwähnte und willkürlich verstandene These von Miriam Eliav-Feldon über das 16. Jahrhundert als ein Zeitalter der Dissimulation1 und konzipiert ihre Studie en pendant zu der Monografie Matthew Restalls2, indem sie von Stadens Plan im literarischen Diskurs „parallel zur Eroberung Mexikos durch Cortés“ (S. 129), aber ausschließlich „auf rhetorischer, auf fiktionaler Ebene“ (S. 220) betrachtet, ohne ihn als ein reales koloniales Vorhaben zu verstehen. Matthew Restall postuliert hingegen, dass Cortés seine Eroberung Mexikos nach in der Renaissance entwickelten hochkulturellen Mustern beschrieben hat.

Cornelia Soldat verfolgt leidenschaftlich angebliche „Pokerreflexionen“ von Stadens und den Aufbau seiner situativen, keinesfalls auf eine reale Eroberung Moskoviens sinnenden, sondern vermeintlich literarischen Strategie und meint, dass er damit nach einer hohen Position am kaiserlichen Hof Rudolfs II. gesucht hat.

Was verbindet die koloniale Beschreibung von Cortés‘ Eroberung Mexikos und von Stadens Plan einer möglichen Eroberung Moskoviens, die so nie stattgefunden hat? Cornelia Soldat fand einige Parallelen in beiden Texten: den Topos der Tyrannen-Bekämpfung und die Beschreibung der Schätze von Montezuma und Ivan. Beide Pläne sahen das Abwerben ihrer Vasallen vor, die Eroberung ihrer Hauptzentren, den plötzlichen Anschlagmoment. Zudem behandeln beide Fragen der Städtebelagerung, das Problem der Heeresversorgung mit Proviant, echte bzw. vorgetäuschte Provokationen und Spione, die Nutzung von Kriegsmaschinen, die Motivierung des Heeres und andere ähnliche Aspekte. Soldat orientiert sich an Restall, wenn sie auch von Stadens Eroberungsnarrativ an Caesars Beschreibung der Gallischen Kriege anknüpft, wie dieser es für den Plan Cortés‘ argumentierte. Dies vermag nicht ganz zu überzeugen, da es sich bei den beschriebenen Gemeinsamkeiten eigentlich um banale Bestandteile jeglicher Kriegserzählung seit Arrians Werk über die Feldzüge Alexander des Großen handelt. Von Staden selbst bezieht sich hingegen an keine Stelle auf die Antike, obwohl dies für einen Renaissance-Intellektuellen – und als solchen im Sinne eines Kompilators versteht Soldat ihn merkwürdigerweise (S. 107) – unerlässlich wäre. Vor allem hätte ein direkter Hinweis auf Cortés‘ Narrativ Staden mehr Autorität geschenkt, wenn er den Kaiser mit seinem Plan beeindrucken hätte wollen.

Der eigentliche Adressat von Staden war Kaiser Rudolf II, der allerdings andere Prioritäten und kein Interesse an Livland und Moskovien hatte. Trotzdem muss er als Akteur untersucht werden, wenn es um mögliche koloniale Pläne gegangen wäre. Cornelia Soldat betont, dass von Staden ihm die Rückgabe Livlands als „dynastisches Erbe“ versprach, sowie zukünftig die Schätze des Großfürsten und reichen Tribute Moskoviens, eine starke Position in Konkurrenz mit dem spanischen König um den kolonialen Landerwerb und nicht weniger als die Herrschaft über die ganze christliche Welt (S. 146). Diese Interpretation überzeugt meines Erachtens nur bedingt, da von Staden als wichtigste Aufgabe in seinem Plan die Bekämpfung der Osmanen identifizierte, was den damaligen Hauptsorgen Kaisers vollkommen entsprach. Letztendlich schien Moskovien als „ein Reich, das würdig war, von einem Kaiser eingenommen zu werden“ (S. 221). Dennoch war aber der ganze Plan, laut Soldat, nur ein intellektuelles Spiel, weil man „am Hof des Kaisers nicht davon ausging, dass Beschreibung und Anschlagsplan in irgendeiner Weise mit historischer Realität zu tun hatten. Vielmehr wurden sie als Dissimulation gelesen, als ein Zeichen dafür, dass der Schreiber eine Stellung im Dienst des Kaisers suchte“ (S. 210), und er konnte sie nur dank seiner Kenntnisse der Antike und einem erfolgreichen Vorbild auf durchaus gute literarische Weise erreichen (S. 220). Den Kaiser mag diese Argumentation damals mehr überzeugt haben, als den Rezensenten dieses Buches.

Noch ein Beteiligter hat einen möglichen Krieg gegen Moskovien aber durchaus ernst genommen, nämlich der dynastisch dicht in der Baltischen Region vernetzte Pfalzgraf Georg-Johann von Veldenz, der Stadens Texte in Auftrag gegeben hat und die benötigte Hilfe für ihre Fertigstellung geleistet hat. Cornelia Soldat argumentiert nachvollziehbar, dass die Initiative eines Krieges gegen Moskovien von ihm und nicht von Staden ausging (S. 223), aber es habe sich dabei „nie um eine Eroberung Moskoviens, sondern immer um eine Reconquista Livlands“ (S. 221) gehandelt. Leider widmet sie diesem wichtigen Aspekt erst ganz am Ende des Buches ihre Aufmerksamkeit (S. 210–221), was die Akzente in der Interpretation dieses Kriegsprojekts wesentlich versetzt. Darin führt sie aus, wie Georg-Johann von Veldenz mit den Eroberungsplänen Stadens den Kaiser für den Krieg zu gewinnen versuchte. Allerdings war von Staden kein guter Moskovien-Experte, laut Soldat (S. 224–225, 228–229). Sie zeigt, dass die meisten seine Kenntnisse mitunter aus den bekannten Berichten Schlichtings und Guagninis stammen und mit „eleganten Formeln“ der Kanzleimitarbeitern von Veldenz’ (S. 125) geschmückt wurden. In diesem Sinne sind die Texte von Stadens vor allem ein Produkt der Kanzlei des Pfalzgrafen. Es schließt doch nicht aus, dass auch Staden aufgrund seiner Expertise an majestätische Belohnung dachte.

Die Leistung von Cornelia Soldat liegt vor allem in dieser Neubewertung von Stadens Texten, die als deutschsprachige Quelle zum Curriculum jedes Studiums der Osteuropäischen Geschichte gehören. Zugleich zeigt sie einen wichtigen Aspekt in der Verflechtungsgeschichte der baltischen Länder mit Moskoviens in der Frühen Neuzeit auf.

Weniger überzeugend ist Soldats Interpretation von Stadens Text als Dissimulation und seine Person als mächtiger Intellektueller und begabter Literat. Weder seine Texte noch Soldats Argumentation reichen hierfür als Beleg, auch wenn sie die starke These aufstellt, dass „jegliche Beurteilung dieses Plans von Seiten der militärischen Machbarkeit komplett an der Intention des Textes vorbeigeht“ (S. 220).

Trotz dieser offenbaren Fiktionalität von Stadens Eroberungsplans versucht Cornelia Soldat, ihn in eine europäische koloniale Geschichte einzuschreiben. Ein einmaliges Verweisen Stadens auf Amerika reicht dafür allerdings nicht aus. Soldats Interpretation, dass Staden die Moskoviten als ein unbekanntes, fremdes, inferiores, noch zu entdeckendes und zu missionierendes Volk darstellt und auf diesem Weg sie „in den kolonialen Diskurs im Reich hineinschreibt“ (S. 229) ist schlichtweg falsch. Staden sah die Moskoviten stets als Christen, wenngleich sie eine andere Sprache sprechen und noch Holzkirche bauen.3 Außerdem lässt grundsätzlich die koloniale Objektivierung Moskoviens im 16. Jahrhundert und danach, sowie die Idee eines innereuropäischen kolonialen Projekts zweifeln, auch und vor allem, weil dieser Plan auch dem schwedischen König im Jahr 1581 geschickt worden war, wo die Eroberung Moskoviens gewiss keiner kolonialen Idee gefolgt wäre.

Cornelia Soldats innovative und postmodernistische Interpretation der Beschreibungen von Staden im Rahmen der Kolonialgeschichte konnte nicht ganz überzeugen. Da, wo sie den festen Boden der Quellenanalyse betreten hatte, sind ihre Ergebnisse schlüssig und relevant, weniger ihre Interpretation von Stadens Plänen als einer Dissimulation. Das 16. Jahrhundert war nicht nur ein Jahrhundert kolonialer Eroberungen und intellektueller Spiele, sondern immer noch von „gewöhnlichen Kriegen“, dynastischen Schachspielen und vagabundierten Abenteurer.

Anmerkungen:
1 Miriam Eliav-Feldon, Renaissance Impostors and Profs of Identity, Basingstoke 2012, hier S. 6, 10.
2 Matthew Restall, Seven Myth of the Spanisch Conquest, Oxford 2003.
3 Genrich Štaden, O Moskve Ivana Groznogo, Moskau 1925, S. 57 und 64–65.

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